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Rana Matloub

17.10. - 14.11.2015

Rana Hatloub: Zwischen unendlich weiten Ufern leben wir Eröffnungsrede im Kunstverein Linz am Samstag, 17. Oktober 2015

Am Beginn der künstlerischen Arbeit von Rana Hatloub steht die Auseinandersetzung mit dem Raum und dem Ort, an dem dieser sich befindet. Dies ist auch hier im Gebäude des Kunstvereins Linz der Fall. Ihre ortsspezifische Ausstellung, bestehend aus Zeichnungen, Objekten, Gedichten und Installationen, bezieht sich nicht nur auf die spezifischen räumlichen Begebenheiten des Kunstvereins -  weshalb sie genauso nirgendwo anders gezeigt werden könnte. Die aus dem Irak stammende Künstlerin beschäftigt sich außerdem mit der wechselhaften Geschichte des Ortes, was zusätzlich zur Einmaligkeit ihrer Ausstellung beiträgt.  
„Zwischen unendlich weiten Ufern leben wir“ lautet der poetische, sehnsuchtsvolle Titel ihrer Schau. In ihm enthalten sind die beiden zentralen Koordinaten der künstlerischen Arbeit Rana Matloubs: der Raum, der sich zwischen den beiden unendlich weit voneinander entfernten Ufern auftut – und damit auch die Zeit, die wir benötigen, um vom einen zum anderen zu gelangen. Lebenszeit zwischen Geburt und Tod mag diese Formulierung umspannen, auch die dieses Gebäudes, das nach dem Ende der Ausstellung endgültig abgerissen werden soll. Zudem knüpft Matloub so auch die Verbindung zur Vergangenheit, die sich hier in dem ehemaligen Kloster und späteren Schul- und Verwaltungsgebäude zugetragen hat und die dem alten Gemäuer spürbar anhaftet. Auch die Entfernung zwischen Individuen kommt darin zum Ausdruck, die bei aller Nähe und Intimität doch nie vollständig überbrückt werden kann. So klingen innerhalb dieses kurzen Textfragments wie beim Anfang eines Gedichts mehr als eine Bedeutungsebene an. Es zeigt sich hier eine grundsätzliche Eigenschaft der Kunst von Rana Matloub: ein Andeuten und bewusstes Offenlassen, woraus bei aller Präzision der Formulierungen die große suggestive Anziehungskraft ihrer Arbeit erwächst.
Hinzu kommt, dass Matloub in ihrer Kunst nicht nur visuelle Bilder, sondern parallel dazu auch sprachlich vermittelte bildliche Vorstellungen erzeugt. Ihre Gedichte und gesprochenen Erzählungen bzw. Erzählfragmente stellen für sie Zeichnungen in Form von Sprache dar, mit denen sie zum Ausdruck bringt, was sie mit dem Zeichenstift nicht vermitteln könnte. Überhaupt ist es ihr daran gelegen, die Besucher ihrer Ausstellung auf mehreren Ebenen anzusprechen und fast alle Sinnesorgane mit einzubeziehen. Durch ihre raumbezogenen künstlerischen Interventionen wird, wer die Ausstellung betritt, unweigerlich ein Teil von ihr. Nicht nur das Auge als Organ einer primär visuell vermittelten ästhetischen Erfahrung wird stimuliert, sondern nahezu der ganze Leib – das Ohr beim Hören ihrer gesprochenen Texte und der musikalischen Intervention, die in dieser Ausstellung erstmals hinzugekommen ist; der Tastsinn beim Erspüren ihrer Materialien oder der sich materiell manifestierenden Setzungen, z.B. bei den in die Wand gefrästen Zeichnungen, die wir haptisch erfassen können; schließlich die Nase beim Geruch der in Zitronenöl getränkten Notenblätter, der sich im ganzen Ausstellungsraum ausgebreitet hat.  
Die rein optisch vermittelten Eindrücke aktivieren eher unsere analytischen Fähigkeiten, auf die wir durch unsere Schulbildung meist in erster Linie trainiert wurden, um unser Leben zu
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bewältigen. Demgegenüber sind Hör-, Geruchs- und Tastsinn viel enger mit einer unvermittelten, direkten Wahrnehmung verbunden, die nicht nur unseren Intellekt, sondern auch unsere Emotionen anregen, die uns aber gewöhnlich viel weniger als Instrument der Erkenntnis dienen als das Auge. Rana Matloub jedoch schließt bewusst all diese Kanäle der Wahrnehmung ein, um uns – im Unterschied zur bloßen Betrachtung – eine möglichst umfassende, man könnte sagen: ganzheitliche Kunsterfahrung zu ermöglichen.  
Beginnen möchte ich nun mit der großen, raum- und wandgreifenden Installation in Form eines Schiffes und dessen Schatten, wobei offen gelassen ist, welche der beiden Silhouetten Vorbild, welche das gespiegelte Nachbild ist. Dieses Schiff und sein Pendant, aus insgesamt 900 Einzelstücken bestehend, scheinen unterwegs ins Nirgendwo zu sein, auf dem Weg zu den unendlich entfernten Ufern – vielleicht den Ufern des Verstehens, die letztlich auch niemals zu erreichen sind. Begreifen können wir hingegen, dass Rana Matoub hier unzählige alte, abgelegte Notenblätter eines Kirchenmusikers verwendet und anschließend in Duftöl getränkt hat, um die durchscheinenden Seiten dann, wie Kinder es tun, zu kleinen Schiffen zu falten. Für die Wand hat sie dafür eigene Zeichnungen ausgewählt, die unserem vollständigen Zugriff durch die Faltungen entzogen bleiben und die wir nur erahnen können, auch wenn sie tatsächlich da sind. Kirchengeschichte und persönliche Geschichte verbinden sich wiederum mit dem Gebäude, in dem vor über 100 Jahren junge Mädchen in einer Klosterschule zu Schwestern ausgebildet wurden, wie die (gegenüberliegende) historische Fotografie zeigt. Dies brachte Rana Matloub ihre eigene Kindheit in Erinnerung, als sie selbst in Bagdad bei Nonnen zur Schule ging.  
Nebenan befindet sich der ehemalige Zeichensaal der einstigen Schule, und Zeichnungen sind es auch, die Rana Matloub mit ihrem intuitiven Gespür für den Raum hier v.a. präsentiert. Einige Arbeiten hat sie schon anderswo gezeigt, doch erscheinen sie hier in der Asbacherstraße leicht verändert, da ihnen durch den anderen, spezifischen Kontext neue Bedeutungsebenen zuwachsen. Bei den vielen weiblichen Figuren lässt sich an ehemalige Schülerinnen, Lehrerinnen oder Büroangestellte denken, die sich hier aufgehalten haben. Einstige Geschlechterrollen mögen in den Sinn kommen, die durch die Betonung der Konturen wie die unvollständig belassenen Entwürfe von Weiblichkeit erscheinen, jedoch durchaus offen für Anpassungen. Andere Zeichnungen hat Matloub direkt auf die Wand aufgetragen, teils an ungewöhnlichen, manchmal auch nur schwer zugänglichen Ecken, mit denen sie den Raum gleichsam als ihren Bildgrund markiert. Noch stärker mit dem Raum verbunden sind jene Zeichnungen, welche die Künstlerin direkt in den Putz hinein gefräst hat. Sie schreiben sich dem Raum unablösbar ein wie seine Geschichte und sind erst dann nicht mehr sichtbar, wenn es auch den Raum nicht mehr geben wird.  
Charakteristisch für die Zeichnungen von Rana Matloub  ist ihr präziser, teils suchend-tastender, teils forsch vorangehender Strich, mit dem sie die Konturen ihrer Figuren umschreibt und alles Unwesentliche weglässt. Daraus ergibt sich einerseits eine große Klarheit, andererseits die bereits angesprochene Offenheit und Ambiguität ihrer Bildsprache. Mit Ausnahme eines Hirsches, der uns direkt anblickt, sind alle anderen Figuren kopflos oder von uns abgewandt. Matloub fordert uns solcherart auf, unsere eigenen Assoziationen an ihre Zeichnungen heranzutragen und die uneindeutigen Leerstellen zu ergänzen – mit Vorstellungen und
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Gedanken, die unseren eigenen Erfahrungen entspringen. Die unzusammenhängenden Töne ihrer Audio-Installation, die keine Melodie bilden, aber dennoch Erinnerungen an bereits Gehörtes wecken, tun ihr Übriges, um unsere Imagination zu stimulieren. Zuweilen fügt sie den Zeichnungen einzelne Worte oder Satzfragmente hinzu, oder sie verleiht den Zeichnungen mit gefilzter roter Wolle eine dezidiert haptische Qualität, die von der Verletzlichkeit des Körpers kündet. Weniger Ausdruck geistiger Prozesse im Sinne des klassischen disegnos, jenem Konzept der Renaissance, das die Zeichnung als Abbild der künstlerischen Idee verstand, handelt es sich bei den Zeichnungen von Rana Hatloub um Verdichtungen auch emotionaler oder sensueller Erlebensmomente. Die Motive fungieren als generell verständliche Codes für individuelle Geschichten, über die wir uns austauschen und mithin verständigen können, gerade weil sie ein kollektives Moment besitzen – über Zeit und Raum hinweg. Es sind gleichsam transkulturelle Behälter, deren narratives Potential sich uns ebenso allgemein gültig wie individuell ausformbar mitteilt.  
Dass die kulturelle Herkunft zwar mitschwingt, aber immer auch transzendiert wird, indem sie als transformierbar und mithin veränderlich erscheint, das zeigen auch die großen Bodenarbeiten im eigentlich nicht zum Kunstverein gehörenden ehemaligen Abstellraum. Die Wände hat Rana Matloub überstreichen lassen, aber so, dass an den Rändern oben und unten die ursprüngliche Wand zu sehen ist und ihre Zeitlichkeit offengelegt wird (wie bei einer der Übermalungen von Arnulf Rainer). Auf dem Boden zeichnet die Künstlerin mit Klebeband, Nagel und Faden, zudem hat sie florale Objekte aus den Seiten alter Kinderbücher geformt. Die Härte und Unverrückbarkeit der Nägel und des industriell vorgefertigten Materials steht in spannungsvollem Kontrast zu der Leichtigkeit und Zerbrechlichkeit der papiernen Blumen, zumal sie nur von Briefklammern zusammen gehalten werden. Wieder klingen fragmentarische Bedeutungsebenen an, die sich jedoch nie ganz entschlüsseln lassen – gerade im Verborgenen und Unausformulierten keimt ihre narrative Kraft.  
Material und Form der Kunst von Rana Matloub beschwören eine starke Sinnlichkeit herauf und ergeben eindringliche, aber sensibel zu uns sprechende Bilder, auch dann, wenn wir sie hören können. Ihre Reflektion dessen, was Bilder vermögen, verweist sehnsuchtsvoll auf ferne Länder und vergangene Zeiten. Rana Matloub macht sie uns gegenwärtig, ohne dass wir ihrer ganz habhaft werden können. Mit ihrem so emphatischen, sinnlich vermittelten Bilderkosmos lockt sie uns auf poetische Reisen ins Ungewisse, verheißungsvolle Ufer im Blick, deren Unerreichbarkeit uns immer wieder aufs Neue verführen mag, wozu ich Sie nun, meine Damen und Herren, herzlich einladen möchte. Ich danke Ihnen  für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen anregenden Abend.

Susanne Buckesfeld, Kunstmuseum Ahlen

https://www.ranamatloub.de/

Bildergalerie

Fotos W.W.Diegmann