"Die Augen der Betrachter werden von den Kunstwerken der Künstlerin Emmer magisch angezogen. Diese versprechen sofort einen längeren Diskurs durch die phantastischen Welten, in die die Künstlerin die Betrachter verführt. Mit Staunen erkennen wir Landschaftsbilder, Tierporträts, Stillleben, menschliche Köpfe in Form von Porträts usw., usw. Das Oeuvre ist reich gegliedert und sorgt mit den leuchtenden Farben, als das Geheimnis einer unbekannten Malerei, für stete Neugier. Denn die Malereien sind in Wirklichkeit Holzschnitte, die in quadratischen Druckstöcken auf die Nesselleinwand aufgedruckt werden, und zwar mit der Körperkraft und nicht mit einer Druckwalze. Emmer durchbricht die lange deutsche Tradition des Holzschnitts mit seinen kleinen Papieren von Albrecht Dürer, den Künstlern der Brücke oder auch HAP Grieshaber. Emmer erfindet eine neue Welt des Holzschnitts. Sie überführt ihn, in die große Dimension der Malerei.
Bedenken wir aber die aktuellen Denkstrukturen unserer Zeit, so geht die Künstlerin sehr ungewöhnlich vor. Ihre Bilder sind voller Ambiguitäten, sie strahlen eine große Vielfalt und Mehrdeutigkeit aus, was heute alles andere als normal ist. Wir leben in einer Zeit, in der die Kunst nicht freigesetzt, sondern eingeordnet wird. Der Glaube an den vitalen Kosmos in einem Kunstwerk, der sich in die Zukunft hinein entwickelt und einen immer neuen Diskurs ermöglicht, ist zu Gunsten von engen Konnotationen gewichen. In der letzten Dokumenta haben wir in Kassel gelernt, dass die Kunstwerke heute nur noch der optische Beleg für die Richtigkeit einer soziokulturellen These sind. Die übergreifende Kraft eines Werkes wird zurückgestutzt, nur eine Aussage ist im richtigen Zusammenhang erlaubt.
Thomas Bauer spricht in seinen Überlegungen: Die Vereindeutigung der Welt (Stuttgart, 2018) über diesen Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Die Kunst sucht ihre Eindeutigkeit und damit auch ihre Bedeutungslosigkeit. Die Gender- Auseinandersetzungen in den heutigen Medien, die cancel culture, die Versuche Traditionen und geerbtes Erbe zu vernichten, zeigen diese heutigen, internationalen Welten-Trends auf.
Jürgen Weber (nach Bauer, S.50)spricht über den Verlust an kommunikativer Relevanz. Ganz anders erfahren wir in den Werken von Emmer eine spannende nicht enden wollende Diskussion, die jedes einzelne Bild mit dem Betrachter führt. Die Kunst sucht die Vielfalt der Ideen in einem Werk und dient als „opera aperta“, als offenes Kunstwerk wie es Umberto Eco (1932 – 2016) 1962 formuliert, nicht als Bestätigung sondern als Anregung für jeden Betrachter, der jeweils anders denkt und fühlt, der aus den individuellen, spezifischen Konnotationen heraus mit dem Bild spricht, um es auf seine eigene Art und Weise im Kopf zu vollenden: Jeder auf seine Weise.
Die Bilder der Künstlerin erlauben diese Dialoge, sie folgen dem dialogischen Prinzip. Ihre Anregungen liegen in den ungewohnten Bildern, dieser Mischung aus Malerei und Druckgraphik, den Themen, die sie bearbeitet. Diese rufen ein starkes Narrativ auf, ohne dass aber sich diese Narrative der verabredeten Ordnung oder einem logischen Denksystem unterwerfen. Sie bleiben frei, frei wie die Kunst.
Robert Musil (1880 – 1942) hat in seinem Roman, “Der Mann ohne Eigenschaften“ (ab1929), die Parallelaktion erfunden, aus der heraus sich die eigentliche Realität besser erklären und verstehen lässt. Er spricht davon, dass wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt es auch einen Möglichkeitssinn geben müsse. Emmer arbeitet in ihrer Bilderwelt genau mit diesen Optionen eines Möglichkeitssinnes, der sich zudem aus allen logischen Zwängen heraushält.
Ihre Mischwesen können aus der Antike, den Welten der Religionen, Disney oder Kinderträumen stammen. Nie folgt Emmer aber irgendwelchen ikonographischen Vorgaben. Sie gibt auch keine erklärenden Bildtitel dazu, sondern formuliert den wörtlichen Kontrast zu dem Anschaubaren, wie Autobahnausfahrt, Saure Sahne, Topfschlagen, Altes Kamuffel, Außer Spesen nichts gewesen, Ingwertee mit Senf, Ping-Pong Scharade, Treppenlift statt Wochenende usw. usw.
Die Titel beziehen sich auf Gegenstände und persönliche Erfahrungen der Künstlerin, zu denen sie eine besondere persönliche Verbindung erspürt. Sie sind Erinnerungen oder aus dem biografischen Umfeld herausgewachsen. Auf einer handgeschriebenen Liste führt sie weitere Begriffe auf, die vielleicht in der Zukunft in den Bildwerken auftauchen.
Die Betrachter können aus den Titeln die ernsthafte Ironie mitnehmen, die sich nur alogisch nachvollziehen lässt. Denn die Wunderwelt der Alternativen scheint grenzenlos zu sein. Doch exakt in dieser Hoffnung zeigt sich die künstlerische Wahrheit und die unserer eigenen Existenz.
Eine große Rolle spielt z. B. der Gegenstand Koffer, nicht ein moderner Hartschalenkoffer, sondern ein alter traditioneller Lederkoffer mit den sorgfältig gestalteten, stoßsicheren Ecken. In der Arbeit „ubiquitär“ taucht er verlassen auf. Er ist Inhaltsträger, doch beinhaltet er Erinnerungen oder etwas Wertvolles oder ist er leer. Ist er vergessen worden oder ist gerade angekommen oder einfach weggestellt worden. Was sucht er eigentlich alleine in der unendlichen Landschaft, die sich geographisch nicht zuordnen lässt.
Das Schachspiel ist ein anders Beispiel. Es kann das Pferd also der Springer sein, wie in dem Bild „Party im Mondschein“ oder ein einsamer schwarzer Bauer in dem Bild „Blaues Hotel“ (200 x 290 cm). Das Schachspiel kann als gesellschaftliche Allegorie verstanden werden, der einsame Bauer kann als verlorener Wanderer erkannt werden. Der Bauer, also die schwächste Figur aus dem Schachspiel, ist wohl herausgenommen worden, obwohl er durch die Additionen der gemalten Quadrate als Grundmuster der Leinwand wie auf einem Schachbrett zu stehen scheint. In der leuchtend blau dominierten Landschaft mit einem großen Baum ist kein blaues Hotel zu erkennen. Es dominiert eine verwunschene Traumlandschaft, die sehr einladend ist, so dass der Bauer wie eine Stellvertreterfigur in ihr auftritt. Der Bauer kann das Schachspiel verlassen und zum Landwirt werden, der seine Landschaft studiert, den Klimawandel überdenkt, oder er ist selbst das trauernde Opfer einer modernen Agrarindustrie geworden. Kunsthistorisch erinnert er auch an Marcel Duchamp (1887 – 1968), der das Schachspiel als die Krönung aller Künste verstand. Das Bild stößt Denken an, ohne sich wirklich von den Optionen des Bildes zu trennen. Auch eine überspitzte Interpretation löst diese Gedankenwelt durch die bildnerische Vorlage aus.
Jedes Bild könnte so weiter besprochen werden. Ihre Lesbarkeit wird durch die Druckplatten in ihrem quadratischen Spiel, ohne dass eine Erinnerung an konstruktive Kunst aufkommen kann, erleichtert. Ebenso das Wandern der figürlichen Motive auf diesen Landschaftsgründen, die eine starke skulpturale, räumliche Bindung aufzeigen.
Der figurale Teil ist ebenfalls in eigenen Druckformen aufgetragen. Durch die Mehrfachbedruckung entsteht eine malerische, geheimnisvolle Oberfläche, die mit dem klassischen Pinsel oder der Sprühdose nicht hergestellt werden kann. Diese malerische Wirkung der Drucke wird in neueren Arbeiten deutlich. Emmer nutzt in der neuen Serie „Concrete“ Betonplatten und in der Serie „Deconstructed“ Keramikkacheln, die jeweils andere malerische Möglichkeiten in sich tragen.
In ihnen verzichtet sie auf die Gegenständlichkeit zu Gunsten von ornamentaler Malerei, die sich in vielen Schicht ebenfalls als ein Narrativ erweisen. In der neuen Serie der Porträts geht sie diesen Schritt weiter. Farbige, ornamentierte Köpfe, die aus Hawaiihemden herausragen, beziehen sich auf Personen, die jeder sein könnte oder aus der Erinnerung der Künstlerin in ihrer Privatheit verbleiben, die aber klassische, alte Namen tragen, wie Wolfgang oder Peter, Helga, Margarete oder Helena. Alle erleuchten mit großer Farbigkeit ihre Existenz neu.
Alle Kunstwerke tragen Gefühle, sprechen aber auch aktuelle Themen an wie Praxis, Politik, Flucht, Freude usw. Diese Zeile könnte bis in die Unendlichkeit erweitert werden. Denn der Reichtum einer jeden Arbeit verspricht eine große Nachhaltigkeit, verbunden mit einer steten reichen ästhetischen Rente."
Dieter Ronte
Bonn, Mai 2021
Inessa Emmer kreiert traumhafte Bilder, die mit unserer Sehgewohnheit spielen. Landschaftsbilder, Tierporträts und Stillleben, die in ihrer Kombination keinen logischen Sinn ergeben. Dieser Reiz des Surrealen in der Kombination von Technik und Farben verführt den Betrachter in eine mysteriöse Bildwelt. Das Resultat ihrer Arbeiten sind große figurative Bilder, die vor allem durch leuchtende Farben anziehen und innerhalb einer klaren Komposition überzeugen.Die Künstlerin entwickelt ihre Bildideen aus verschiedenen Charakteren.
Sie schneidet mit mühevoller Feinarbeit einzelne Druckstöcke zu Figuren. Die Druckplatten presst sie mit ihrem Körper auf die Leinwand. Alle Motive im Bild sind additiv durch den Holzschnitt aufgetragen. Die verschiedenen Farben druckt die Künstlerin mehrfach übereinander auf den Nesselstoff. Das Kolorit verteilt sich dadurch nicht gleichmäßig auf der Leinwand, sondern erzeugt ein lebendiges Muster verschiedener Farbnuancen. Charakteristisch für ihre Holzschnitte ist die Kombination zweier Schneidetechniken. Zum einen verwendet sie Hohleisen, um die Figuren ins Holz zu schneiden und zum anderen fertigt sie mit einer Säge Stempel für die plakativen Teile des Werkes an. Die Grundkomposition des Bildraumes legt Inessa Emmer zuvor fest, auf dem sie die Motive spielen lässt.